
In jedem von uns steckt ein Kind – oder manchmal ein Pubertist. Der kommt vor allem dann zum Vorschein, wenn man uns nicht ernst nimmt.
Was ist cool daran, erwachsen zu sein? Dass man tut und lässt, was man will – und sein Leben nach eigenen Regeln führt. Selbst wenn wir wissen, dass das nicht jederzeit und überall der Fall ist, erwarten wir es doch. Kontrolle über das zu haben, was wir wie erleben – und zu welchen Ergebnissen wir kommen – ist uns wichtig.
Erwachsen werden bedeutet genau das: die Eroberung der Kontrolle und das Beschreiten eigener Wege. Wir emanzipieren uns und gehen neue, reife Beziehungen auf Augenhöhe ein.
Was hat das mit einer digitalen Kundenbeziehung zu tun? Alles!
Digitalisierung beschleunigt diesen Lösungsprozess fundamental und verlangt nach einer neuen Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen. Im Artikel „Warum man aus Kunden Kollegen machen sollte“ haben wir gesehen, dass vor allem die „Großen Vier“ (Google, Apple, Facebook und amazon) nachhaltig unsere Erwartungen an Digitalität verändert haben.
Der Erfolg der Digitalisierung auf Kundenseite bemisst sich an den Freiheitsgraden, die sie schafft – und an dem Maß, in dem sie Kontrolle und Selbstbestimmung ermöglicht.
Das Bild des „heranwachsenden Kunden“ bedeutet nicht, dass Unternehmen überlegene Vaterfiguren sind. Es geht darum, dass hier eine Entwicklung stattfindet, die man fördern kann und an deren Ende eine neue, tiefere Beziehungsqualität steht – oder die man zu deckeln versucht, mit dem Ziel, den Kunden in relativer Abhängigkeit zu lassen. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis unser Kunde sagt: „Ich muss hier überhaupt nichts!“ – und weiterzieht… Die Qualität von Service wird immer kritischer betrachtet und ist zunehmend ein Kaufkritierium.
Um diese neue, tiefere Beziehungsqualität zum Kunden zu erreichen, sind häufig Veränderungen des Status Quo in den zentralen, vier Handlungsfeldern nötig:
Freiheit des Zugangs fördert Akzeptanz und Nutzung
Jedes Unternehmen, dass per E-Mail erreichbar ist, ist „24/7 on“. Das ist keine Herausforderung. Die Frage, ob die Zugangskanäle nach Kundeninteressen und -präferenzen ausgewählt sind, oder eher aus Unternehmenssicht festgelegt wurden, ist eine völlig andere Frage. Die dem Kunden jeweils zur Verfügung stehende Lösungstiefe ist eine weitere relevante Dimension. Es ist wichtig, auf den relevanten Zugangskanälen prässent zu sein und jederzeit vollständige Serviceangebote machen zu können, um ein Maximum an Nutzung und Kostenersparnis zu realisieren.
Individualität respektieren und mit der eigenen Marke verbinden
Wo immer es möglich und relevant ist, lohnt sich die Frage, wie man eine kundenindividuelle Lösung umsetzen kann. „Eine Lösung“ ist okay – „meine Lösung“ hat jedoch einen ganz anderen Wert. Für 80-90% aller Vorgänge reicht eine standardisierte Antwort – Begeisterung entsteht bereits, wenn Anbieter auch nur punktuell über das übliche Maß hinaus gehen. Die Suche nach solchen Hebelpunkten und deren sorgsame Ausgestaltung lohnt sich – sie wirkt markenbildend und bindend.
Nach dem Verbindenen suchen – Gemeinschaft organisieren
Bediene ich jede Menge Einzelkunden – oder betreue ich eine Gemeinschaft? Es gibt gute Gründe, eine Community aufbauen zu wollen. Hier entwickelt sich Bindung und Loyalität. Sie kann zu einem vereinfachten Marketing durch Empfehlungen führen und sogar eine höhere Zahlungsbereitschaft begründen. Und: Menschen mögen es, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Aber: Communities entstehen nicht allein durch die technische Möglichkeit zum Austausch. Sie werden getrieben durch Themen und Leidenschaft – und an diesem Punkt können sie den Markenkern eines Unternehmens erlebbar machen.
Biete ich nur günstigen Strom an, oder begleite ich meine Kunden auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Leben? Vermiete ich Wohnungen, oder zeige ich Wege auf, wie modernes Wohnen aussehen kann? Aus Unternehmenssicht ist das der Blick ins aktuelle Serviceangebot: finde ich dort vor allem „Havarieangebote“, die Leistungsstörungen behandeln sollen, oder gibt es auch Angebote, die pro-aktiv Mehrwerte bieten?
Die erstgenannten Prozesse sind aus Unternehmenssicht vor allem Kostentreiber. Gut ist, wenn der Vorgang günstig ist und am besten gar nicht vorkommt. Die letztgenannten öffnen Wege Gewinnungs- und Haltekosten zu reduzieren, organisches Marketing voranzutreiben und ggf. sogar zusätzliche Umsätze zu erzielen.
Neue Rollen beim Kunden zulassen
Durch Digitalisierung verändert sich die Rolle des Kunden. Dem Kunden mehr Freiheiten zur Selbsthilfe einzuräumen, bedeutet ihn näher an Prozesse und die Organisation heranzulassen. Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir diesen Aspekt näher beleuchten.
Der zweite Aspekt ist die Möglichkeit eines Kunden, in der Beziehung zum Unternehmen nicht mehr rein als Konsument aufzutreten, sondern auch als Produzent zu wirken. Das Phänomen solcher „produzierenden Konsumenten“ ist noch relativ jung, man spricht auch von „Pro-Sumern“.
Oft ist es eine Frage der Perspektive und Kreativität, ob man als Unternehmen Wettbewerb wittert, oder Chancen sieht. Macht man Foren dicht und moderiert sie? Oder ermutigt man Kunden, dort als Autor und Experte zu fungieren? Versucht man Balkonkraftwerke zu verbieten? Oder hilft man seinen Kunden dabei, die richtige Ausstattung zu bekommen und optimal zu betreiben?
Auch hier entwickelt Freiheit Loyalität und Bindungskraft – und manchmal ein neues Geschäftsfeld.
Zu guterletzt – und damit keine Missverständnisse entstehen: Freiheit und Kontrolle bedeuten auf Kundenseite nicht, jeden Handgriff immer selbst tun zu wollen. Es bedeutet, die mir wichtigen Aspekte meines Konsums, meiner Beziehung zum Unternehmen oder Anbieter im Griff zu haben. Es ist völlig okay, wenn mich die Lufthansa nach Mallorca fliegt – es ist überhaupt nicht in Ordnung, wenn ich ungefragt nach Paris umgebucht werde, weil es „da ja auch irgendwie schön ist…“.
Was ein höherer Grad an Selbstbestimmung und der Wunsch nach mehr Self-Service für die Prozesse eines Unternehmens bedeutet, welche Chancen darin liegen und wie man auf diese Weise die eigene Marke erlebbar macht – betrachtet der nächste Artikel dieser Serie.